Tiago hat nicht nur Freude am Reiten, es ist auch ein gutes Training für die Muskeln. Foto: Fuchs

Tiago aus Binsdorf kann inzwischen nicht nur kurz stehen, sondern sogar auf einem Pferd reiten. Das ist mehr als ein Hobby. Die Hippotherapie soll ihm helfen, eines Tages womöglich sogar laufen zu können. Wir haben Tiago vor Ort auf dem Reiterhof besucht und seine großen Fortschritte gesehen.

Geislingen/Haigerloch - Der kleine Rollstuhl mit den bunten Dinos auf den Rädern muss heute mal am Rand stehen. Tiago ist auf Beinen unterwegs. Und davon hat er gleich vier. Shetlandpony Sabrina verhilft dem Vierjährigen mit  Spinaler Muskelatrophie Typ 2 nicht nur zu mehr Freiheit, sie hilft ihm auch dabei, eines Tages vielleicht auf seinen eigenen Beinen gehen zu können. 

Seit einem halben Jahr bekommt Tiago bei Reittherapeutin Petra Seemann in Haigerloch-Gruol Hippotherapie. "Hippotherapie ist Krankengymnastik auf dem Pferd", erklärt die ausgebildete Physiotherapeutin und Reiterin. Tiagos Mutter hilft ihm auf das Pony. Er braucht keinen speziellen Sattel und kann sich selbst ganz gut auf dem Pony halten. Die Phyiotherapeutin stützt ihn. Es geht im Schritt-Tempo auf den runden Reitplatz, den sogenannten Roundpen. Ein paar Mal im Kreis, dann ein wenig im Slalom. Tiago lacht und witzelt mit seiner Therapeutin. Er darf sogar freihändig reiten und dabei ein leuchtend orangenes Hütchen halten. "Tatü-tata, die Polizei ist unterwegs", scherzt Seemann. Bei Tiagos Mama, Stephanie de Freitas, die auf der anderen Seite des Zauns steht, legen sie einen Stop ein. Tiago darf sie nach dem Führerschein fragen. Den habe sie leider nicht dabei, sagt seine Mama. Ob sie einen neuen haben könne? "Ich habe zwar einen, aber er ist nur für mich", antwortet Tiago mit einem schelmischen Grinsen.

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Einen Grund für den Erfolg der Hippotherapie sieht Seemann im Spielerischen. "Der Spaß steht im Vordergrund und trotzdem ist es ein sehr gutes Muskeltraining."Kinder, die nicht selber gehen können, haben eine schlechte Rumpfmuskulatur. Dadurch werde es noch schwerer, irgendwann Laufen zu lernen. "Pferde haben das gleiche Gangbild wie wir Menschen", erklärt die Expertin. "Die dreidimensionale Schwingung trainiert Rücken- und Bauchmuskulatur." 

Große Anfroderungen an die Tiere

Obwohl mit der Hippotherapie ihrer Erfahrung nach sehr gute Erfolge erzielt werden können, trage die Krankenkasse die Kosten nicht. Tiagos Familie finanziert die Therapie über das gesammelte Spendengeld. Seemann hat die Ausbildung zur Hippotherapeutin vor etwa 30 Jahren gemacht, als die Therapie für Kinder mit Behinderung noch eine Kassenleistung war. "Dann ging aber die Diskussion los, ob das wirklich notwendig ist", erinnert sie sich. "Es ist eine relativ kostspielige Therapie und schließlich wurde sie aus dem Leistungskatalog herausgenommen", bedauert Seemann.

Die Suche nach Therapiepferden sei schwierig. "Bis ich Sabrina gefunden habe, war ich ein ganzes Jahr lang auf der Suche nach einem geeigneten Shetlandpony", sagt die Therapeutin. "Dann brauchen die Pferde noch einmal mindestens zwei Jahre Ausbildung, denn sie müssen absolut zuverlässig sein. Wenn so ein Kind vom Pferd stürzt, hat es keinerlei Stützreaktion. Das darf nicht passieren. Und die Pferde müssen auch alleine vor mir laufen können. Ich will sie nicht führen, sondern das Kind halten. Und das stellt eine große Anforderung an die Tiere." 

Seemann hat ihre Pferde im Griff. Das sei aber nicht zwangsläufig bei allen Reittherapeuten der Fall. Das Problem sei, dass es keine gesetzlich geregelten Voraussetzungen für Reittherapeuten gebe. "Ich bin Physiotherapeutin und habe eine reiterische Ausbildung, die ich mit einer Prüfung abschließen musste. Das belegt, dass ich die Kontrolle über die Pferde habe und befähigt bin, sie auszubilden", erklärt Seemann. "Es sind aber längst nicht alle ausgebildet, die sich Reittherapeuten nennen. Und dann kann es für die Patienten auch gefährlich werden." 

Tiago kann nach einem halben Jahr stehen

Seemann führt das Pony um einen Eimer herum, in den Tiago einen Ball werfen darf. Anschließend bekommt er einen Stock, mit dem er im Vorbeireiten ein Hütchen von einem Fass hauen darf. 

"Ich musste ihn am Anfang massiv stabilisieren", erinnert sich die Therapeutin. "Als er die ersten drei Male auf dem Pferd saß, hatte er Probleme, sich aufrecht zu halten. Das hat sich sehr schnell gebessert. Er kann jetzt phasenweise auch ohne Unterstützung auf dem Pferd sitzen." Besonders viele Übungen seien gar nicht nötig. "Sich auf dem Pferd aufrecht halten, macht schon viel Arbeit. Jeder der reitet weiß, wie schwierig das ist", so die Lehrerin. Erst wenn die Kinder sich auf dem Pferd halten können, mache sich auch spielerische Übungen mit ihnen.

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Am Ende der Reitstunde darf Tiago das Pony bürsten und mit Karotten belohnen. "Das hat ihm von Anfang an gefallen, weil es eine Therapie ist, die Spaß macht", sagt Stephanie de Freitas. Und es zeige sich nach dem halben Jahr auch schon eine Wirkung. "Wir üben gerade das Stehen. Das kann er schon ein paar Sekunden alleine, wenn er sich festhalten kann." Vor einem Jahr sei das noch undenkbar gewesen.