Das Team der psychologischen Beratungsstelle in Horb um Stellenleiter Fred-Jürgen Werr berät unter anderem Menschen, deren Situation sich in der Corona-Krise noch verschärft hat. Foto: Beratungsstelle

Leiter der psychologischen Beratungsstelle hat Tipps für den Umgang mit dem Ausnahmezustand.

Horb - Die Corona-Krise geht für viele Menschen einher mit psychischen Belastungen oder gar Konflikten. Die psychologische Beratungsstelle in Horb kann Hilfe leisten. Es muss aber gar nicht unbedingt zur persönlichen Krise kommen. Fred-Jürgen Werr, Diplompsychologe und Leiter der Stelle, spricht mit unserer Zeitung darüber, wie es gelingen kann, den Ausnahmezustand besser zu bewältigen.

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Wie stark beschäftigt Sie bei der psychologischen Beratungsstelle in Horb gerade das Coronavirus?

Unter den aktuellen Anmeldungen befinden sich keine Beratungsanfragen, die sich unmittelbar auf das Thema Corona beziehen. Wir gehen allerdings davon aus, dass sich durch die gegenwärtige herausfordernde Situation – Schließung der Kindertagesstätten und Schulen, Home-Office, Kontaktbeschränkungen, sehr eingeschränkte Freizeitmöglichkeiten und negative finanzielle Auswirkungen – mit den daraus resultierenden psychischen Belastungen und Konflikten eine deutliche Zunahme ergeben wird. Vielleicht wird es auch in unserer Nähe Menschen geben, die Angehörige durch das Virus verloren haben und Begleitung suchen. In den bereits laufenden Beratungen spielt das Thema Corona oftmals eine bedeutende Rolle: Eine an sich schon schwierige und belastende Situation wird hierdurch verschärft. Aber auch Klienten sind kreativ und lösungsorientiert, zeigen ihre Fähigkeit mit den Herausforderungen umzugehen.

Was sind die häufigsten Probleme, mit denen sich Menschen aktuell an Sie wenden?

In Bezug auf die Corona-Krise werden auf der persönlichen, individuellen Ebene soziale Schwierigkeiten, Einsamkeit vermehrt thematisiert. Auch die Selbststeuerung, Impuls- und Aggressionskontrolle ist unter den derzeitigen Belastungen zusätzlich erschwert. Bei Paaren, die Konflikte miteinander haben, die hierher kommen, um ihre Beziehung zu verbessern, ist das Eskalationspotenzial teilweise erhöht. In Familien sind Spannungen und Streitigkeiten eher häufiger und heftiger geworden.

Welche Menschen melden sich derzeit vor allem bei Ihnen – sind das Senioren, Jüngere, Familien?

Unser Beratungsangebot richtet sich an Einzelne aller Altersgruppen, auch Jugendliche, Paare und Familien. In der jetzigen Situation gibt es bisher keine veränderte Verteilung in den Anmeldungen.

Wie helfen Sie Menschen, die aufgrund der Corona-Krise in Schwierigkeiten sind?

"Time Out" statt "Burst Out": Nicht spontan impulsiv automatisiert reagieren! Ziel ist Selbstreflexion, Selbstkontrolle und Selbststeuerung zu optimieren. Einschränkungen, Veränderungen in der Lebensgestaltung zu akzeptieren und einen gelingenden Umgang damit zu finden ist sehr wichtig. Hilfreich hierbei: sich die belastenden Gedanken und die hieraus entstandenen Gefühle bewusst machen und auf beiden Ebenen einwirken: Sich den Gedanken stellen, sich darüber austauschen, Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen erlernen und praktizieren, um aus dem Teufelskreis des Grübelns zu entkommen.

Was kann dabei helfen?

Befürchtungen und Ängste haben auch körperliche Auswirkungen, daher ist Bewegung und Aktivsein hilfreich. Ganz wichtig: sich eine Tagesstruktur geben, Regelmäßigkeit und sinnvolles Tun, das auch noch Freude bereiten sollte, ist hilfreich. Auch dem Partner, der Partnerin und den Kindern gegenüber: sich erst zurücknehmen, zur Ruhe kommen – und dann handeln! Dies ist ein äußerst wichtiger Ansatz, um die Gefahr häuslicher Gewalt – gegen Kinder, gegen Frauen, gegen Männer – zu vermeiden.

Welche Tipps geben Sie speziell Familien?

Regen Sie Ihre Kinder an, nicht auf. Zusammen eine Tagesstruktur erstellen, gemeinsam Aktivitäten planen und durchführen, die Kinder und Jugendlichen begleiten, unterstützen, Angebote machen. Zu betonen: zusammen und gemeinsam. Je nach Alter und Interessen brauchen die Nachkommen mehr oder weniger Vorgaben von den Erziehenden, unterschiedliche Angebote und Aktivitäten. Gemeinsames Spielen für die Einen, Kochen für die Anderen. Viel gemeinsame Zeit für die Jüngeren, mehr Zurückgezogenheit für die Älteren. Sozialkontakte sind immer wichtig, auch über Telefon, E-Mails, Chats, Video. Es ist sogar möglich, einen Brief zu schreiben, vielleicht ein gemaltes Bild mitzuschicken.

Wie läuft eine Beratung bei Ihnen ab?

Nach der Anmeldung am Telefon kommt es nach der Terminvereinbarung zum ersten Kontakt mit dem Ratsuchenden, dem Paar oder der Familie. Derzeit findet dieser Kontakt nach telefonischer Absprache persönlich in unseren Räumen oder aber am Telefon statt. Der erste Termin ist immer kostenfrei. Für Jugendliche, Familien und Paare mit minderjährigen Kindern sind auch die folgenden Termine kostenfrei, für die anderen Ratsuchenden wird ein Eigenbetrag vereinbart, der vom Einkommen abhängig ist. Aus finanziellen Gründen scheitert keine Beratung.

Was kann die psychologische Beratungsstelle leisten und wann ist eher ein Besuch bei einer psychologischen Praxis sinnvoll?

Zu uns kann Jede und Jeder kommen. Unser fünfköpfiges Beratungsteam verfügt über ein hohes Maß an Beratungs- und Therapieausbildung sowie -erfahrung. Gelangen wir in den Sitzungen zu der Überzeugung, dass es angemessen wäre, dass der Ratsuchende zu einem niedergelassenen Psychotherapeuten gehen solle, so klären wir dies im Gespräch. Und wir begleiten den Ratsuchenden gegebenenfalls, bis ein Therapieplatz gefunden wurde.

Welche Tipps geben Sie Menschen, die jetzt gerade über Wochen hinweg sozial isoliert sind?

Schaffen Sie sich eine Tages- und Wochenstruktur. Suchen Sie sich positive Aktivitäten und praktizieren Sie diese regelmäßig. Gehen Sie – vielleicht auch lange brachliegenden – Hobbys nach, suchen Sie gegebenenfalls neue. Gehen Sie ins Freie, treiben Sie Sport. Tun Sie sich Gutes. Pflegen Sie Kontakte über den Balkon, Telefon, Video-Chat, E-Mails, Briefe. Tauschen Sie sich aus. Nutzen Sie die virtuelle Welt: Museen, Fitnessanleitungen, Konzerte. Praktizieren oder erlernen Sie Achtsamkeits- oder Entspannungsübungen. Seien Sie kreativ.

Was müsste politisch jetzt passieren, um die Krise für viele Menschen psychologisch besser verkraftbar zu machen?

Ich finde, die Politiker machen das ganz gut. Entscheidungsprozesse mit hoher Transparenz vermitteln, mit der wir uns in dieser unsicheren, auch beängstigenden Zeit auf unbekanntem Terrain bewegen, in dem auf Sicht gefahren werden muss. Sie machen keine falschen Versprechungen, geben keine nicht zu gebenden absoluten Sicherheiten. Was mehr Beachtung finden sollte: Finanziell Benachteiligten mehr materielle Unterstützung zukommen lassen. Hilfen wie Tafeln, Essen in Schulen und Kindertageseinrichtungen sind weggefallen. Existenzängste sind psychisch äußerst belastend.

Wie gehen Sie selbst als Psychologe und Therapeut mit der aktuellen Situation um?

Informationen zum Thema einholen – aus glaubwürdigen, vertrauensvollen Quellen, etwa dem Robert-Koch-Institut. Eigene Befürchtungen und Ängste zulassen, damit umgehen, auch im Austausch mit Anderen. Dinge tun, die Gut tun und Freude machen: Musik hören und selbst machen, kochen und backen, spazieren gehen, entspannen, Achtsam mit mir umgehen, das heißt, mein Tun und meine Befindlichkeiten bewusst wahrnehmen und hinterfragen.